Ein unheilbarer Virus hat wieder einmal erbarmungslos zugeschlagen, das Reisefieber. Auch meinem Bruder und vier anderen Kollegen passiert dasselbe Missgeschick. Zur Heilung dieser schrecklich schönen Krankheit verschreiben wir uns deshalb einen 4-wöchigen Kuraufenthalt in Alaska, um der ganzen Hektik und dem Alltagsstress wenigstens für kurze Zeit zu entfliehen.
Der Kisaralik-River, unser geplantes Reiseziel, entspringt im Südwesten Alaskas und windet sich auf einer Länge von 250km über unzählige Stromschnellen und einen Wasserfall zur nächstgelegenen Eskimosiedlung Bethel im Yukon Delta. Doch zunächst gilt es, die 3 Kanus zusammen mit der übrigen Ausrüstung von Flughafen zu Flughafen zu buckeln, immerhin über 60kg pro Person, Proviant noch nicht inbegriffen. Die Verkäuferin im Supermarkt von Anchorage staunt nicht schlecht, als sie uns eine Rechnung von 900$ für die 5 vollgestopften Einkaufswägen präsentieren muss. Dieser grosse Haufen soll in 3 kleinen Kanus verstaut werden können? Natürlich stecken einige Luxusartikel darunter, wie 6 Flaschen Whisky (zur Desinfektion der Mundhölen), 10 Liter Wein und Unmengen von Schweizer Schokolade. Aber darauf verzichten? Niemals! Irgendwie gelingt es uns trotzdem, alles auf die wasserdichten Säcke und Trommeln zu verteilen, nur hat sich das persönliche Gepäck inzwischen auf 100kg vergrössert. Überraschenderweise nicht das Übergewicht, sondern unsere einzigen Abwehrwaffen gegen die Bären, die Pfeffersprays, machen uns Probleme beim Einchecken. Aber gut versteckt ist halb geschmuggelt: nur eine Spraydose fällt den Sicherheitsleuten zum Opfer.
In 3 Flügen bugsiert der Buschpilot mit seinem Wasserflugzeug uns und unsere Ausrüstung an den Ausgangspunkt des Trips, den Kisaralik-Lake. Ein letztes Winken mit den Tragflügeln, dann umgibt uns nur noch Stille. Endlich haben wir's geschafft und sind dem ganzen Rummel entronnen. Während 3 Wochen ist kein einziges menschliches Lebenszeichen mehr zu entdecken. Vor uns liegt ein glasklarer Bergsee, eingebettet in bizarre Bergspitzen. Auf einem entfernten Schneefeld tummelt sich eine Karibuherde. Vor Bären brauchen wir uns hier oben noch nicht zu fürchten, die warten weiter unten an den Stromschnellen auf die Scharen von aufwärtsziehenden Lachsen und abwärts treibenden Kanufahrern. Totzdem gewöhnen wir uns jetzt schon an, den Koch- und Schlafplatz weit genug voneinander zu trennen und all die riechenden Utensilien wie Zahnpasta und Seife nie im Zelt zu lagern (hoffentlich mögen die Bären den Geruch von getragenen Socken nicht, die bleiben nämlich im Zelt!).
Es folgen 4 Tage mit Entspannung pur. Ob beim Fischen, im Kanu liegend, oder beim Brot backen im selbstgebauten Backofen, wir lassen uns viel Zeit. Eines Nachts erwache ich im Zelt. Da scheint doch tatsächlich jemand mitten in der Nacht grosse Steine ins Wasser zu werfen. Doch das Geräusch entpuppt sich als Biber, der vor unserer "Haustüre" seine Runden dreht und immer vor dem Abtauchen mit seinem Schwanz kräftig auf das Wasser schlägt.
Eigentlich wäre es langsam an der Zeit, unsere Fahrt flussabwärts zu starten, immerhin liegen noch 250km Wasser vor uns. Inzwischen zeigt sich auch das Wetter von seiner feuchten Seite, so dass uns nichts mehr hier halten kann. Trotz des Rückenwindes kostet uns die Fahrt über den See bis zum Ausfluss des Kisaralik-Rivers einige Schweissperlen. Die prall gefüllten Kanus lassen sich nur schwer auf Kurs halten, zudem bringen uns die sich immer stärker aufbauenden Wellen von hinten arg aus dem Gleichgewicht. Doch schnell vergessen sind all die Strapazen am Lagerfeuer bei "Spaghetti ai Peperoncini". Wir halten uns ganz an die Grundregel der Natur "der Stärkere gewinnt". Die Pfanne kommt in die Mitte. Auf ein Startkommando stürzen sich alle darauf, nur mit Gabel bewaffnet. Wer die Spaghettis am schnellsten runterschlingen kann, kriegt auch am meisten, so einfach ist das.
Es braucht einige Zeit, bis wir uns fahrtechnisch an die Tücken des Flusses gewöhnt haben. Die dauernden Richtungswechsel um bis zu 180 Grad behagen unseren störrischen Böcken überhaupt nicht. Abgebrochene Äste und Zweige im Boot zeugen von unseren unkontrollierten Ausritten in die Uferböschung. Doch wir lernen dazu, und bald schon genügen wenige Steuerschläge, um den Kurs zu halten, für den Antrieb ist der Fluss selber besorgt. Weidende Karibuherden, kreischende Erdhörnchen und Biberdämme gleiten an uns vorbei. Wie rote Torpedos schiessen ganze Scharen von Lachsen unter dem Boot hindurch, die weiten Tundraebenen verwandeln sich langsam in offene Fichtenwälder. Der Zauber von Alaska hat uns gepackt. Diese Hochgefühle lassen sich einfach nicht in passende Worte fassen. Umso unverständlicher wird in so einem Moment die krankhafte Zerstörungswut von uns Menschen der Natur gegenüber.
In die Stille der Natur mischt sich ein fernes Grollen. Tönt ganz nach einer Waschmaschine. Nur schnell raus aus dem Fluss, er scheint weiter vorne einfach im Nichts zu versinken. Harte Knochenarbeit ist nun angesagt. Der Wasserfall muss auf dem Fussweg bezwungen werden. Wie römische Galeerensklaven buckeln wir unsere Kanus den Berg hoch und wieder runter, immer kurz vor dem Ausrutschen. Belohnt werden wir mit einem traumhaften Zeltplatz. Hunderte von Fischen tummeln sich im Pool direkt unter dem Fall. Sogar die kleinsten Sprösslinge versuchen den hoffnungslosen Sprung über das tosende Wasser. Lustig anzuschauen, wie sie Anlauf holen und aus dem Wasser schiessen. Die einen verpassen den Absprung völlig und prallen gegen die Felsen, andere wieder halten sich einige Sekunden im reissenden Wasser, bevor auch sie wieder zurückgeschwemmt werden.
Eine neue Entdeckung am Flussufer beunruhigt uns ein wenig, wir sehen die ersten Bären- und Wolfsspuren. Kein Wunder bei diesem reichhaltigen Fischbuffet und den von Heidelbeeren übersähten Hängen. Kaum wieder im Kanu, trauen wir unseren Augen nicht. Da steht doch ein junger Grizzly direkt vor uns im Wasser. Die Überraschung scheint auf beiden Seiten gleichgross zu sein. Lautlos gleiten die 3 Boote etwa 10m am verdutzten Jungen vorbei. Doch kaum bewegen wir uns zum Ufer hin, rast der Bär davon. Mit einer unheimlichen Ausdauer klettert er den nächsten Hang hoch, ohne sich einmal umzublicken. Sind wohl alle Bären in dieser Gegend so ängstlich? Dann haben wir gar nichts zu befürchten. Das Monster vor einem Grizzly, das plötzlich nur 200m vor uns in den Beeren herumstochert, lässt uns das Herz bis zuunterst in die Hosen rutschen. Zum Glück steht der Wind günstig. Vermutlich würde ja der Bär das Weite suchen, aber nur schon der Gedanke, er rennt auf uns zu und wir stehen da mit unserem Bärenspray-Spielzeug...! Schnell noch ein paar Fotos und Videoaufnahmen als Beweis, dann aber nichts wie weg.
Wie drollig ist dagegen die Schwarzbärenfamilie anzuschauen, die über uns am Hang herumtollt. Die Schwarzbären gelten zwar als ziemlich hinterhältige Kerle, aber so, wie die beiden Jungen den Hang hinabpurzeln, sich mehrmals überschlagen, auf jeden Baum hochklettern und sich zwischendurch im Fluss abkühlen, scheinen sie für uns keine Gefahr darzustellen. Eher belustigend wirkt auch ihr Interesse für unser Nachtessen, vom anderen Flussufer aus. Erst unser Pfannengeklapper lässt sie abhauen; so wie es aussieht, über alle Berge.
Inzwischen hat die Nacht schon alles verdunkelt. Nur das Lagerfeuer, an dem wir dichtgedrängt unsere Glieder wärmen und den Nieselregen zu vergessen versuchen, spendet noch wenig Licht. Werni, der sich eigentlich schon in die Federn verkriechen wollte, steht plötzlich wieder vor uns. "Hat er sich frisch gewaschen? Er sieht so bleich aus", fragen wir uns. Der Grund wird uns bald klar. Unser Schlafcamp sieht aus wie ein Schlachtfeld: alle Zelte am Boden zerrissen, mit Daunenfedern garniert, Rucksäcke und andere Utensilien liegen in der ganzen Umgebung zerstreut, und der Regen plätschert leise vom Himmel herab. Den Bären muss dieses Spiel unheimlich Spass gemacht haben, vor allem das Flachdrücken der Zelte und das Verrupfen von Daunenschlafsäcken. Was nun? Uns ist gar nicht mehr zum Schlafen zumute. Schichtweise halten immer zwei Wache, mit Pfanne und Spray bewaffnet, der Rest zwängt sich in die 4 noch intakten Schlafsäcke unter der Küchenblache, wird dabei aber regelmässig geduscht, sobald sich das angesammelte Wasser in der Blache wieder entleeren muss.
Natürlich verspürt am darauffolgenden Tag niemand von uns mehr Lust, auch noch eine Minute länger hierzubleiben. Nur welchem Flusslauf sollen wir folgen? Der Fluss verändert seinen Lauf, wo und wann es ihm gerade passt: ein richtiges Labyrinth. Wir entscheiden uns immer für den grösseren Flusslauf und bezahlen prompt für diesen Fehler. Der vermeintlich so grosse Arm entpuppt sich als Sackgasse. Immer mehr Wasser verabschiedet sich in kleinen Seitenarmen, der Rest scheint einfach im Wald zu versickern. Hat sich jetzt alles gegen uns verschworen? Zurück geht es nicht mehr, die Abzweigung liegt viel zu weit zurück. Bleiben noch 2 Möglichkeiten: entweder den beschwerlichen Landweg mit all dem Gepäck und der Unsicherheit, ob wir überhaupt auf einen fahrbaren Wasserweg stossen, oder aber wir hacken uns mit Axt und Säge einen Weg frei auf dem noch vorhandenen kleinen Rinnsal. Die Entscheidung fällt einstimmig: Axt und Säge. Wir kriegen sofort tatkräftige Unterstützung von Tausenden von fanatischen Insekten, die uns mit ihren Bissen so richtig "anstacheln". Zu den miesesten Kreaturen gehören die "No See'ems" (winzig klein, dafür stark in der Gemeinschaft) und die "White Socks" (den Namen verdanken sie ihren weissen Beinen). Gäbe es da nicht ein spezielles Mückenschutzmittel der Eskimos, das zwar jeden Plastik (wie Swatchuhren und Kameraobjektive) anfrisst, aber wenigstens für einige Zeit das Ungeziefer fernhält, wären wir bald reif für die Klapsmühle.
Unsere Stimmung lässt sich nicht unbedingt als begeisternd beschreiben, denn nach jeder mühsam freigehackten Schneise erwartet uns schon das nächste Hindernis, sei es ein Biberstaudamm oder eine Ansammlung von umgestürzten Bäumen. 5 Stunden schweisstreibender Knochenarbeit liegen hinter uns, als wir völlig unerwartet in einen ziemlich übelriechenden Fluss hineingeschwemmt werden. Obwohl uns der Gestank der vielen verwesenden Lachse dauernd in der Nase liegt, fühlen wir uns doch wie im Paradies.
Uns treibt nur noch ein Wunsch: möglichst schnell rein in den Schlafsack und schlafren, Bärenspuren hin oder her. Die beiden aus den Zeltwracks notdürftig zusammengenähten Behausungen (uns fehlte leider eine vernünftige Nähausbildung!) haben nur einen Haken, sie bieten allen Moskitos Gratiseintritt ins Innere. Die müssen wohl lange kein Menschenfleisch mehr auf der Menuliste vorgefunden haben, so gierig stürzen sie sich auf uns. Oder liegt das wohl eher an den feinen Düften, wenn Kleider wieder einmal eine Wäsche vertragen könnten? Den Kraftausdrücken nach, welche die ganze Nacht lang vom Nachbarzelt zu uns rüberdringen, kämpfen unsere Nachbarn mit dem gleichen Problem.
Völlig entnervt beschliessen wir am nächsten Morgen, so schnell wie möglich wieder in die Zivilisation zu flüchten. Der Rest ist schnell erzählt. 16 Stunden paddeln, verteilt auf 2 Tage, dann stehen wir vor dem letzten Höhepunkt unseres Trips, einem kühlen Bier. Den eigentlichen Zweck hat diese am Anfang so traum-, am Schluss eher alptraumhafte Kanutour aber voll und ganz erfüllt: das Reisefieber ist verschwunden. Ich frage mich nur, für wie lange? Ich gehöre nämlich zu den Chronisch-Kranken!